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Thermal Trace: Wie eine neue App Hitze und Kälte greifbar macht

Die Sommerhitze wird immer drückender, die Winterextreme immer seltener, aber wenn sie auftreten, dann mit voller Wucht. Doch wie lässt sich diese Belastung für den menschlichen Körper messen – und über Jahrzehnte hinweg vergleichen?

Eine Antwort darauf liefert eine neue Anwendung des Copernicus Climate Change Service (C3S) und des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersage (ECMWF): Thermal Trace.

Diese App bringt mehr als 80 Jahre Klima- und Wettergeschichte auf einen Blick. Sie macht sichtbar, wie sehr uns Hitze und Kälte seit 1940 zugesetzt haben – und sie zeigt, wohin die Reise in Zeiten des Klimawandels geht.

Wenn 30 Grad nicht gleich 30 Grad sind

Viele kennen das Phänomen: Mal wirken 30 Grad erträglich, mal kaum auszuhalten. Der Unterschied liegt darin, wie der Körper die Umgebung wahrnimmt. Luftfeuchtigkeit, Wind, Sonnenschein oder auch aufgeheizte Gebäude verändern die Belastung massiv.

Genau hier setzt der Universal Thermal Climate Index (UTCI) an. Er errechnet eine sogenannte „gefühlte Temperatur". Dieser Wert ordnet sich in verschiedene Stress-Stufen ein – von leichtem Kältestress bis hin zu „extremem Hitzestress".
Beispiele:

Ab 32 °C gefühlter Temperatur beginnt „starker Hitzestress".

Über 46 °C spricht man von „extremem Hitzestress".

Auf der Kälte-Seite gilt: Unter –40 °C fühlt sich die Umgebung lebensgefährlich an.

Thermal Trace nutzt diesen Index und macht ihn für alle verständlich – mit Karten, Diagrammen und Farbgrafiken, die die Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte sichtbar machen.


Eine Zeitmaschine für Wetterextreme

Das wirklich Spannende an Thermal Trace ist der Blick zurück. Die Daten reichen bis ins Jahr 1940. Damit lassen sich historische Extremereignisse wie die berüchtigte Kälteperiode 1962/63 – der „Big Freeze" – genauso darstellen wie die jüngsten Hitzewellen.

Mit wenigen Klicks kann man die gefühlten Temperaturen für bestimmte Tage, Monate oder Jahre abrufen. So wird sichtbar, wie außergewöhnlich die Sommer 2022 bis 2025 tatsächlich waren: Fast ganz Europa stand unter „starkem" oder sogar „sehr starkem Hitzestress".

Und wer wissen will, wie sich ein bestimmter Ort entwickelt hat, bekommt ebenfalls klare Antworten. Für Rom zeigt Thermal Trace zum Beispiel, dass die Zahl der Tage mit „starkem Hitzestress" in den letzten Jahrzehnten drastisch gestiegen ist – 2023 waren es ganze 96 Tage, fast ein Drittel des Jahres.


Gesundheitsgefahr Hitze

Die App ist nicht nur ein Spielzeug für Wetterinteressierte, sondern ein Instrument, das Leben retten kann. Laut dem Bericht European State of the Climate 2024 gab es 2023 in Europa rund 48.000 hitzebedingte Todesfälle. Hitzestress ist damit die häufigste wetterbedingte Todesursache.

„Thermal Trace soll helfen, diese Gefahren sichtbar zu machen", erklärt Rebecca Emerton, eine der verantwortlichen Wissenschaftlerinnen. Ihre Kollegin Chiara Cagnazzo bringt es drastisch auf den Punkt: „Thermalstress kann im Extremfall über Leben und Tod entscheiden."

Die App richtet sich daher nicht nur an Fachleute, sondern auch an Journalistinnen, Politiker, Städteplaner und die breite Öffentlichkeit.


Einfach zu bedienen – klar zu verstehen

Damit die Anwendung nicht zur reinen Datenwüste wird, haben die Entwickler großen Wert auf eine intuitive Oberfläche gelegt. Links oben können Nutzer auswählen, ob sie sich für Hitze oder Kälte interessieren, welchen Zeitraum sie betrachten möchten und auf welche Region sie zoomen wollen.

Rechts oben stehen mehrere Darstellungsformen zur Verfügung:

Karten zeigen die Spitzenwerte für eine Region.

Zeitreihen lassen die Entwicklung über Jahre oder Jahrzehnte erkennen.

Heatmaps erinnern an die bekannten „Klimastreifen" und zeigen den Verlauf farbig und übersichtlich.

Ein Beispiel aus der App: Für Córdoba in Südspanien lässt sich der 4. August 2025 abrufen. Dort lag die Lufttemperatur bei 40,2 °C, die gefühlte Temperatur aber bei 43,3 °C – ein Unterschied, der entscheidend sein kann, wenn es um die Belastung des Körpers geht.


Technik macht Tempo

Dass die App trotz der riesigen Datenmengen so schnell funktioniert, liegt an einer modernen Speichertechnik namens Zarr. Sie zerlegt die Daten in kleine Blöcke, die nur bei Bedarf geladen werden. Das spart Zeit und ermöglicht flüssige Visualisierungen – auch bei jahrzehntelangen Datensätzen.

Auf derselben Technik basieren auch andere Anwendungen von C3S, etwa ERA Explorer oder Climate Pulse. Ziel ist es, die immensen Klimadatenbestände der Wissenschaft in eine Form zu bringen, die auch Nicht-Experten nutzen können.


Wissen für alle

Für Fachleute kann die App ein Analyseinstrument sein, für die breite Öffentlichkeit ein Fenster in die Klimageschichte. Vor allem aber eröffnet sie die Möglichkeit, Entwicklungen im Kontext zu betrachten: Welche Jahre stachen besonders hervor? Welche Regionen sind stärker betroffen? Und wie verändert sich das Muster über die Jahrzehnte hinweg?

So wird Thermal Trace nicht zur „Antwort" auf den Klimawandel – wohl aber zu einem Werkzeug, das hilft, seine Folgen besser zu verstehen und darüber zu diskutieren.


Quelle:
Copernicus Climate Change Service (C3S) & ECMWF, Mitteilung vom 19. August 2025: Thermal Trace – Decades of heat and cold stress data at your fingertips